Raus aus dem Gröbsten, rein ins Feine auf kinderalltag.de

Raus aus dem Gröbsten, rein ins Feine

Gibt es eigentlich einen Zeitpunkt, an dem Kinder aus dem Gröbsten raus sind? Eigentlich hat man das Gröbste überstanden, wenn die Kleinen durchschlafen und ihre Verdauung, von der Nahrungsaufnahme bis zur Ausscheidung, selbstständig managen. Allerdings würde ich hier noch keine Grenze ziehen. Nur weil man keine Windel trägt und ein Großteil der Löffel auch im Mund, statt auf der Kleidung landen, ist man noch nicht selbstständig. Kaum eine Mutter eines 5-jährigen wird sich entspannt zurücklehnen und sich über die Selbstständigkeit des Kindes freuen, wenn es im Kinderzimmer verdächtig ruhig wird. Es gibt also immer noch genug zu tun und die Verantwortung lastet komplett auf den Schultern der Eltern. Später gehen die Kleinen dann zur Schule und reifen von Jahr zu Jahr immer mehr. Irgendwann ist es dann wirklich so weit. Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus. Startet jetzt das Feine, oder wie geht es weiter?

Der lange Moment

Es ist scher schwer zu sagen, wann ein Kind wirklich selbstständig wird. Es ist kein kurzer Moment, nach dem sich etwas verändert, sondern ein langer Prozess, in dem es immer mehr Kompetenzen aufbaut und in dem es immer selbstständiger wird. Das zwingt die Eltern dazu, sich ebenfalls zu verändern. Die Kinder können nicht nur mehr Verantwortung übernehmen, sie wollen es auch. Also muss man ihnen nach und nach den Freiraum geben, den sie brauchen. Es gibt zwar Momente, die zeigen, dass eine Entwicklung abgeschlossen ist, aber nicht genau den einen Moment, in dem sich etwas ändert. Vielleicht sind es auch genau diese Momente, die die der letzte Stein im Mosaik sind. Wenn das Kind das erste Mal alleine zum Supermarkt geht, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fährt, oder bei einer Freundin, oder einen Freund übernachtet, dann hat sich etwas verändert.

Fertig

Damit ist dann klar, dass das Kind in der Lage ist, etwas auch ohne Elternteil zu erledigen. Ich bin in der glücklichen Lage, meine Kinder mal eben einkaufen schicken zu können, wenn ich etwas vergessen habe. Ich mache mir keine Sorgen mehr, wenn sie nach der Schule nicht sofort heimkommen, sondern noch einen Zwischenstopp beim Kebabstand, oder bei Mc Donalds machen. Sie verfügen über ihr Taschengeld und bewegen sich ziemlich frei durch die Stadt. Ich muss mich nicht mehr mit anderen Müttern abstimmen, wenn sie irgendwo eingeladen werden und die Kinder meist auch nicht bringen, oder abholen. Sie sind selbstständig und ich genieße diese neue Freiheit. Aber bin ich jetzt fertig mit meiner Erziehung? Brauche ich ein neues Hobby?

Zwischen den Welten

Tja, leider ist ein Ende vorerst noch nicht in Sicht. Dummerweise beschränkt sich die Selbstständigkeit der Kinder fast ausschließlich auf ihre Freizeit. Hier wird geplant und umgesetzt, ohne dass mein Mann, oder ich etwas beitragen müssen. Allerdings bedeutet das, dass es doch noch einige Stunden täglich gibt, die die Kinder motiviert werden müssen. Sie wollen geweckt werden, die Jause muss in die Schultaschen gepackt werden und das Mitteilungsheft muss von mir aktiv kontrolliert werden. Was auch immer sich darin findet, die Kinder melden sich nicht. Kontrolliere ich es nicht jeden Tag, dann verpasse ich wichtige Informationen und das betroffene Kind muss die Kritik der Lehrer aushalten. Mittags erwarten sie ein ordentliches Essen und im Laufe des Nachmittags wollen sie zum Lernen und für Hausübungen motiviert werden. Schließlich muss man sie Abends überreden, zu Bett zu gehen, damit man ein paar Stunden später wieder mit dem Wecken beginnen kann.

Me-Me-Me-Time

Die neue Autonomie der Kinder stellt mich vor einige Herausforderungen. In der eigenen Wahrnehmung sehen sich die Kinder als vollständig eigenverantwortlich. Eine Aufforderung zum Lernen wird daher gerne mit einem Verweis auf die umfassende Selbstorganisation beantwortet. Man weiß ja, was man tut und kennt seine Pflichten. Wozu also eine Erinnerung? Die Antwort ist einfach. Die Selbstorganisation reicht dazu aus, sich mit einem Smartphone bewaffnet auf die Couch, oder ins Bett zu legen und erst einmal die neuesten TikTok-Trends zu prüfen. Vielleicht reicht es noch, etwas mit einem Freund, oder eine Freundin zu vereinbaren, aber das Spektrum reicht von Entspannung bis Freizeitgestaltung. Pflichten gehören nicht zu dem, wozu man sich selbst organisiert. Also starte ich wiederholt erfolglose Versuche, die Kinder zu den dringend notwendigen Arbeiten zu motivieren. So laufe ich also regelmäßig meine Runden zwischen den drei selbstbestimmten Kindern. Statt sie zur Pflichterfüllung zu motivieren, komme ich meist mit Bestellungen zurück und darf ihnen an ihre Ruhestätte verschiedene Snacks und Getränke servieren. Unterm Strich ist die altersgerechte Selbstbestimmung der Kinder also höchstens ein Nullsummen-Spiel. Ich glaube sogar, dass sie mich mehr be- als entlastet.

Früher was es besser

So anstrengend kleine Kinder auch sind, sie haben auch ihre Vorteile. Sie sind wesentlich leichter von ihrer Meinung abzubringen, als ältere Exemplare. So gesehen passen sie besser in die Familie, weil sie sich fast nahtlos eingliedern. Man muss da und dort natürlich Rücksicht nehmen, aber wenn die Eltern entschieden haben, in den Zoo zu gehen, dann sind wir in den Zoo gegangen. Schlimmstenfalls musste man ein Zugeständnis, wie ein Versprechen, ein Eis zu kaufen, machen. Das Ergebnis war immer, dass wir mit dem Kind in den Zoo gingen. Heute gibt es dazu zumindest Diskussionen und im Regelfall gehen dann eben nicht alle in den Zoo, sondern nur die, die wollen. Die anderen haben schon etwas vereinbart, keine Lust, sind zu müde, finden den Zoo langweilig, das Wetter zu warm, kalt, nass, windig, oder sonst was. Es hat sich also in der Planung etwas verändert.

Diskussionen

Wo man früher überreden, oder überzeugen konnte, muss man heute diskutieren. Es entspricht durchaus dem Zeitgeist, ein Kind bei Entscheidungen mitreden zu lassen, aber da geht es bei den Kleinen um recht kleine Entscheidungen. Wir waren vor ein paar Wochen bei einem Vortrag von Jan-Uwe Rogge und der Familienexperte rät dazu, dem Kind die Illusion einer Wahl zu lassen. Er bringt das Beispiel, dem Kind anzubieten vor, oder nach der Gute-Nacht-Geschichte die Zähne zu putzen. Es hat also eine Wahl, darf aber nur über die Reihenfolge entscheiden. Die Zähne werden auf jeden Fall geputzt. Ich denke, irgendwann zwischen 6 und 10 versteht das Kind den Trick. Würde es seine Zähne nicht putzen wollen, dann würde es eine dritte Option fordern. Man verbringt also viel zu viel Zeit damit, Argumente zu finden und Gegenargumente zu entkräften.

Die guten Seiten

Allerdings hat diese Veränderung nicht nur Nachteile. So sind beispielsweise die Zeiten vorbei, in denen man einen Urlaubsort nach Kinderwagentauglichkeit und Wickeltischdichte auswählen musste. Heute können wir frei wählen, wohin wir im Urlaub fahren. Theoretisch zumindest, denn auch hier wollen die Kinder mitsprechen. Gut, dass es aber für viele interessante Reiseziele auch zahlreiche Argumente gibt. Sieht man sich an, was man in Cuxhaven mit Kindern machen kann, dann bleibt kaum Raum für Gegenargumente. Meer, Strand, Spielplatz, Wanderung, Zoo, geheiztes Schwimmbad und Kletterpark sind starke Argumente für einen Urlaubsort. Wenn es dann auch noch etwas zu essen gibt, bleiben keine Wünsche offen. Solche Reisen sind mit sehr kleinen Kindern sicher anstrengender, als mit Heranwachsenden. Viel Platz und Bewegungsangebote sind genauso wichtig, wie die Möglichkeit zu entspannen und etwas zu lernen.

Weltoffen

Die Tatsache, dass die Kinder selbstständig werden, eröffnet völlig neue Urlaubskonzepte. Wir waren diesen Sommer in Italien und hatten Pech mit dem Wetter. Es war unproblematisch, mit den Kindern das Naturkundemuseum und den botanischen Garten zu besuchen. Sie sind interessiert und diszipliniert genug, durch ein Museum zu laufen. Was vor ein paar Jahren noch undenkbar war, ist jetzt problemlos möglich. Schon die Anreise ist mit den größeren Kindern deutlich einfacher und entspannter, als mit Kleinkindern. Es reicht, wenn man beim nächsten Rastplatz anhält, wenn jemand auf Toilette muss, statt mit Warnblinkanlage neben der Autobahn zu halten und das Kind über die Leitplanke zu hängen, wenn Gefahr im Verzug ist. Zwar ist ein wenig Übelkeit immer noch möglich, wenn wir lange Auto fahren, aber darüber werden wir rechtzeitig und verbal informiert. Früher wusste man erst, dass dem Kind übel ist, wenn man im Nacken von einem körperwarmen Strahl getroffen wurde. Aber auch Fernreisen sind nicht mehr unmöglich.

Backpacker

Wir mögen keinen Pauschalurlaub, sind aber auch nicht experimentierfreudig im Urlaub. Es ist aber nicht mehr unbedingt notwendig, jedes Detail des Urlaubs im Voraus zu planen. Heute können wir irgendwo ein Appartement mieten und dort ein paar Tage verbringen, ohne dass wir uns sorgen müssen, dass die Kinder unterfordert sind. Mein Mann hat jedem Kind auch schon einen Städtetrip gemacht. So war er in Barcelona und London. Dabei ist Kinderfreundlichkeit kein Thema mehr. Sie tragen ihr eigenes Gepäck, schlafen in einem normalen Bett und sind auch beim Essen pflegeleicht. Man kann spontan und ohne großen Plan einen Urlaub mit ihnen machen. Zwar sind wir aktuell noch keine Backpacker, aber unser Horizont hat sich massiv erweitert. Wir werden in den nächsten Jahren sicher noch viel von der Welt sehen, was bisher für die Kinder noch nicht geeignet war.

Familiendynamik

Mit dem Älterwerden der Kinder verändert sich die Dynamik der Familie spürbar. Wo früher zwei Erwachsene die Verantwortung für Entscheidungen hatten, drängen sich jetzt immer mehr Kinder in den Vordergrund. Statt die Familie zu steuern und zu lenken, müssen wir jetzt moderieren und die Kinder in Entscheidungen einbinden. Die Hierarchie hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Sie tritt in den Hintergrund. Eltern haben heute weit weniger absolute Macht, als in meiner Kindheit, aber solange der Nachwuchs noch sehr klein ist, hat das Wort der Eltern deutlich mehr Gewicht, als das der Kleinkinder. Mit der Zeit ändert sich das. Entscheidungen der Eltern sind nicht mehr Gesetz. Wenn man etwas entscheidet, das dem Jugendlichen nicht gefällt, dann wird die Entscheidung nicht mitgetragen. Man tut also gut daran, nichts im Alleingang zu entscheiden. So diskutieren wir, wohin wir im Urlaub fahren wollen, was wir am Wochenende machen und was es morgen zu essen gibt. Wir diskutieren und argumentieren und hören dabei auch auf unsere Kinder. Es gibt sehr wenige Bereiche, in denen wir Eltern keine Kompromisse eingehen. Der halbjährliche Zahnarztbesuch wird genauso wenig diskutiert, wie der Schulbesuch. In den meisten Bereichen führen wir aber eine ehrliche, ergebnisorientierte Diskussion.

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